Impuls zum 20. April: Es ist, was es ist

Eine Geschichte von Unglück oder Segen

Ein alter Mann lebte in einem Dorf, sehr arm, aber selbst Könige
waren neidisch auf ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes
Pferd. Könige boten phantastische Summen für das Pferd, aber er
verkaufte es nie.
Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf
versammelte sich und die Leute sagten: „Du dummer alter Mann!
Wir haben immer gewusst, dass das Pferd eines Tages gestohlen
würde. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen. Welch ein
Unglück!“ Der alte Mann sagte: „Geht nicht so weit, das zu sagen.
Alles was ist, ist: Das Pferd ist nicht im Stall. Soviel ist Tatsache.
Alles andere ist Urteil. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen weiß
ich nicht, weil ich nicht weiß, was folgen wird.“
Die Leute lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst,
dass er ein bisschen verrückt war. Aber: nach 15 Tagen kehrte
das Pferd zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern in die
Wildnis ausgebrochen. Und nicht nur das, es brachte auch noch 12
wilde Pferde mit. Wieder versammelten sich die Leute und sagten:
„Alter Mann, Du hattest recht, es hat sich tatsächlich als Segen
erwiesen.“ Der Alte entgegnete: „Wieder geht ihr zu weit. Alles
was ist, ist: Das Pferd ist zurück. Ihr lest nur ein einziges Wort in
einem Satz – wie könnt Ihr das ganze Buch beurteilen?“
Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn, der begann die
Wildpferde zu trainieren. Schon eine Woche später fiel er vom
Pferd und brach sich die Beine. Wieder versammelten sich die
Leute und wieder urteilten Sie: „Du hattest recht, es war ein
Unglück. Dein einziger Sohn kann nun die Beine nicht mehr
gebrauchen und er war die Stütze Deines Alters. Jetzt bist Du
ärmer als je zuvor. Der Alte antwortete: „Ihr seid besessen vom
Urteilen. Alles was ist, ist: Mein Sohn hat sich die Beine
gebrochen. Niemand weiß, ob dies ein Unglück ist oder ein Segen.
Das Leben kommt in Augenblicken und mehr bekommt ihr nie zu
sehen.“
Es ergab sich, dass das Land einen Krieg begann. Alle jungen
Männer des Ortes wurden zwangsweise zum Frontdienst
eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er
gebrochene Beine hatte. Der ganze Ort war vom Wehgeschrei
erfüllt, weil dieser Krieg nicht zu gewinnen war und man wusste,
dass die meisten jungen Männer nicht nach Hause zurückkehren
würden. Die Leute kamen zum alten Mann und sagten: „Du
hattest recht, es hat sich als Segen erwiesen.“ Der alte Mann
antwortete: „Ihr hört nicht auf zu urteilen. Alles was ist, ist: Man
hat eure Söhne in die Armee eingezogen und mein Sohn wurde
nicht eingezogen. Nur das Ganze weiß, ob dies ein Segen oder ein Unglück ist.“


Eingereicht von Annette Overmeyer