Flick- und Näharbeiten waren wichtige Entlastung für die Bauersfrauen
Mitte des vergangenen Jahrhunderts wohnten in Halverde knapp 900 Einwohner. Typisch für die damalige Struktur der Landbevölkerung war, dass es neben der dominierenden Landwirtschaft, viele unterschiedliche Handwerksberufe gab. Es waren die für Grundbedürfnisse des landwirtschaftlichen Lebens typische Gewerke. So auch in Halverde, in dem kleinsten Dorf des damaligen Kreises Tecklenburg.
Es gab Zimmerer, Wagenbauer, Tischler, Maurer, Schmiede, Anstreicher, Eierhändler, Schuster, Schneider und Näherinnen. In den Wintermonaten gehörten die Hausschlachter dazu. Die meisten dieser Handwerker betrieben nebenbei noch eine kleine Landwirtschaft. So war es möglich, den Lebensunterhalt für die durchweg bescheidenen Ansprüche zu bestreiten. Nicht zu vergessen sind im sozialen Gefüge des kleinen Ortes, zwei Lebensmittelgeschäfte und zwei Gaststätten. Dorfmittelpunkt aber war die katholische Kirche. Auffallend war in diesem Zusammenhang die stattliche Zahl von insgesamt vier Schneiderinnen bzw. Näherinnen sowie von zwei Herrenschneidern, die in den fünfziger bis siebziger Jahren tätig waren. Nimmt man die nur 886 Einwohner von Halverde (Stand: 13. September 1950), bedeutete dies eine pro Kopf-Versorgung von 1 Schneider/Näherin pro 147 Einwohner. Die ungelernten Schneiderinnen gingen zu den Familien und erledigten dort die haushaltsüblichen Flick- und Näharbeiten. Die ausgebildeten Schneiderinnen dagegen hatten ihre Nähstube zu Hause. Sie fertigten maßgeschneidert jegliche Art von Damenkleidern und -blusen. Sie wurden auch Weißnäherinnen genannt, weil sie auch Bettwäsche nähten.
Die Arbeit der Hausnäherinnen
Alle vier Näherinnen waren nicht verheiratet. Drei von ihnen lebten im Haus ihrer Eltern und genossen dort Wohnrecht mit vollem Familienanschluss. Wenn sie nicht als Näherin unterwegs waren, halfen sie in den damals vielköpfigen Haushalten mit. Maria Ahrens wohnte alleine in einer Wohnbaracke im Dorf. Die Halverder nannten sie allesamt „Naischke“.
Noch bis in die 50er Jahre waren die beiden Hausnäherinnen sehr gefragt. Konfektionskleidung zu kaufen war noch nicht selbstverständlich. Zum einen fehlte das Angebot und zum anderen waren in vielen Haushalten die finanziellen Möglichkeiten nicht gegeben.
Entlastung für die Bauersfrauen
Die Hausnäherinnen, auch „Naischke“ oder „Flicknaischke“ genannt, waren bei den Bauersfrauen gern gesehene Gäste, weil sie die anfallenden Flick- und Näharbeiten erledigten und die Bauersfrauen dadurch deutlich entlasteten. Diese hatten selbst keine Zeit dafür. Sie waren ihrerseits hauptsächlich mit der Versorgung ihrer in der Regel großen Familien ausgelastet. Vielfach fiel ihnen auch noch die Versorgung von Hühnern, Schweinen oder Kälbern zu. Sie hatten ein ausgefülltes Tagespensum zu absolvieren. In der Früh begann es, wenn sie für die Männer das erste Frühstück vorbereiteten. Nach dem Melken und der Fütterung aller Tiere traf sich die Familie zum 2. Frühstück am großen Küchentisch. Anschließend ging es daran, das Mittagessen vorzubereiten. Nach dem Geschirrspülen und Putzen des Küchenherdes, dauerte es nicht lange, denn schon stand das nachmittägliche Kaffeetrinken (Vesper) an. Der arbeitsreiche Tag der Hausfrauen klang nach dem Zubereiten des warmen Abendessens langsam aus. Wenn schließlich die Kinderschar ins Bett gebracht war, endet ein in der Regel 14 Stunden langer Arbeitstag. Alle vier Wochen stand der große Waschtag an. Damit war eine Bauersfrau mindestens zwei Tage beschäftigt. Diese Arbeitsdichte zeigt, dass für die Pflege und Aufarbeitung der Kleidung für die Familienmitglieder nicht ausreichend Zeit übrig war. Also legte man die Kleidung zurück, bei der eine Reparatur, eine Änderung oder eine Neuanfertigung erforderlich war. Sobald sich genug angesammelt hatte, wurde die Näherin bestellt. Die Termine für die Hausbesuche lagen hauptsächlich in den späten Herbst- und Wintermonaten, dann, wenn die Hausfrauen auch ein wenig mehr Zeit hatten. Für die noch zu erledigenden Arbeiten auf den Feldern, war die Frau des Hauses nun abkömmlich.
Familienanschluss inklusive
Zum abgesprochenen Termin der Näherin gehörte es, sich ausreichend darauf vorzubereiten. Die Wohnstube war deswegen frühzeitig vorgeheizt worden. Neue gekaufte Stoffe und Stoffreste wurden aus den Truhen oder Schränken bereit gelegt. Frisch gewaschen lag die Gebrauchskleidung zum Ausbessern und Flicken bereit. Die beiden außer Haus tätigen Näherinnen kamen morgens zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Sie kamen meistens gerade so rechtzeitig, dass sie gleich mit einem kleinen Frühstück starten konnten. Die Tasse Bohnenkaffee war dabei eine besondere Aufmerksamkeit der Bauersfrau. Sollte ein neues Kleidungsstück genäht werden, wurde der Schnitt besprochen und die vorliegenden Stoffe gemustert und ausgewählt. Dazu hatte die Näherin stets ihre Schnittmusterbögen oder Modelle der gängigen Modezeitschriften oder verschiedene Versandhauskataloge parat. Gerne genommen wurden auch die Schnittmusterbögen der Zeitschrift Burda-Moden. Derjenige, der ein neues Kleidungsstück erhalten sollte, hatte sich den ganzen Tag bereit zu halten, denn es musste hin und wieder „anprobiert“ oder. neu „abgesteckt“ werden. Wenn dann die vorbereiteten Arbeiten erledigt waren, begann die Näherin mit dem „Vermessen“. Danach zeichnete sie mit der Schneiderkreide den Schnitt auf den Stoff, um die Teile anschließend mit der Schneiderschere auszuschneiden. Die Näherinnen hatten keine Reisenähmaschine, daher wurde die Nähmaschine der Familien genutzt. Sie waren in der Bedienung der unterschiedlichen Exemplare geübt. Die älteren Nähmaschinen waren noch per Fußpedal zu bedienen. Wichtig war es, dass gutes Tageslicht auf die Maschine, insbesondere auf den Stoffschieber, fiel. Wenn das Tageslicht nicht ausreichte und zusätzliches Licht notwendig war, wurde in die üblicherweise einzige Lampe über dem Wohnzimmertisch, die stärkste Glühbirne des Hause eingedreht. Selbst mitgebracht hatten die Näherinnen ihr eigenes traditionelles Schneiderwerkzeug. Dazu zählten die Schere, Nadeln und verschiedene Garne, eventuell ein Bügeleisen, ein Maßband, ihren eigenen Fingerhut und die Schneiderkreide und soweit vorhanden ein Masszeichner. Mit dem Letzteren wurden Röcke und Kleider auf die gleichmäßige Länge abgekreidet. Einige Näharbeiten erledigten sie auch noch von Hand. Das war der Fall, wenn das Futter und der Saum „gereiht“ werden mussten. Ob bei Schürzen, Kitteln, Blusen, Kleidern oder Röcken für die Frauen oder bei den Chamieschen, den Joppen, den Hosen oder den Mänteln bei den Männern, für alle Wünsche fand die Näherin eine in der Regel praktikable Lösung. Der Schnitt oder die Form spiegelte nicht selten eher den eigenen Geschmack der Näherin, als den der Träger wieder. Praktisch sollte es sein, Modetrends waren eher zweitrangig. Die Menschen legten mehr Wert auf tragbare Qualität als auf modischen Schnickschnack. Spätestens zum Kirchgang an den Sonn- oder Feiertagen machte man sich mit der „neuen Kleidung“ ausgehfein. Man konnte sicher sein, dass ein neues Kleid oder ein neuer Mantel auffiel und allseits kritisch beäugt wurde. Ein geübtes Auge erkannte dann anhand des Schnittes oder der Machart, welche der örtlichen Näherinnen das betreffende Stück geschneidert hatten. Jede der Näherinnen hatte ihren eigenen Stil.
Aus dem Mantel des Vaters wurde die Jacke des Sohnes
Nicht selten musste die Näherin aus alter oder zu klein gewordener Bekleidung des Vaters, des großen Bruders oder aus dem Kleid der Mutter oder der Schwester eine „neue“ Jacke oder einen „neuen“ Rock für die Jüngeren schneidern. Die Familien waren in der Regel so groß, dass es selbstverständlich war, die Kleidung von den Älteren „nachzutragen“. Sie wurde so lange getragen bis sie unansehnlich oder endgültig durchgeschlissen war. Am Ende dienten sie nur noch als Flicken oder Putzlappen. Die Stücke wurden im wahrsten Sinne des Wortes aufgetragen. Waren sie dennoch irgendwie brauchbar, wurden sie für die jüngere Generation im Wortsinne „zurecht geschneidert“. Oft mussten auch an den Männerhemden die durchgescheuerten Kragen erneuert werden.
Den ersten BH nähte die „Flicknaischke“
Selbstverständlich befasste sich die Näherin auch mit der Leibwäsche der Damen. Da waren Nachthemden oder Unterröcke zu kürzen oder länger zu machen, oder die Kleidung musste enger oder weiter gearbeitet werden. Die Aufarbeitung oder Ausbesserung von teils filigran gestickten Miedern oder Korsetts bedurfte Erfahrung und Geschick. Den jungen Mädchen, bei denen sich die ersten Rundungen zeigten, nähte sie auch den ersten Büstenhalter. Arbeiten rund um Bett- oder Tischwäsche wurden ebenfalls erledigt. Bei all diesen unterschiedlichen Arbeiten und unterschiedlichen Menschen brauchten die Näherinnen gute Menschenkenntnis, Verhandlungsgeschick und strikte Diskretion. Ihre Entlohnungen war eher spärlich. Bei einer Vollverpflegung, waren es am Ende des Tages allenfalls 2 oder 5 Deutsche Mark, die in ihre Handtasche glitten. War gerade geschlachtet worden, gab`s als Dreingabe nicht selten eine Wurst oder ein Glas Eingekochtes. Die Hauptsaison der Hausnäherinnen fiel in die dunkle Jahreszeit, dabei waren die Tage um Weihnachten ausgenommen. Spätestens zum Fest Mariä Lichtmess, dem 02. Februar, gingen sie dann wieder auf Hausbesuche.
Tätigkeiten der Schneiderin in ihren Nähstuben.
Viel zu tun gab es für die stationären Näherinnen, wenn ein Familienfest wie z. B. eine Hochzeit oder ein Dorffest, wie Kirmes, Schützenfest oder Feuerwehrfest anstand. Nicht selten mussten anlässlich solcher Festtage gleich mehrere Familienmitglieder neu eingekleidet werden. Da waren dann das Brautkleid für die Braut, ein neues Kleid für die Brautmutter und ein edles Kleid für die Trauzeugen zu fertigen. Auch für Tanten oder Großmütter musste geschneidert werden, und die Kleidung für die Kinder war nicht zu vergessen. Ein Festtag in der Familie gehörte rechtzeitig mit der Näherin abgesprochen, um am Ende nicht unter Zeitdruck zu geraten. Trotzdem fand in der Regel die letzte Anprobe gerade noch am Vortag einer Hochzeit statt. Es war wohl ein ehernes Gesetz, dass die letzte Naht noch am letzten Tag genäht werden musste. Diese Näherinnen ließen sich ihre Arbeiten insbesondere nach dem Zeitaufwand bezahlen. Dies war ein zwar spärliches aber doch geregeltes Einkommen.
Hier nun die vier Halverder Näherinnen mit einer kleinen Vita.
Auguste Üffing, Langenacker
Auguste Üffing (1896 – 1971) war unverheiratet und wohnte im ihrem Elternhaus an der Straße Langenacker. Sie war das vierte von sieben Kindern der Eheleute August und Maria Theresia, geborene Schnitt. Ihr Vater war im Jahre 1932 gestorben. Ihre jüngere Schwester Emma war 1934 in den Orden der Clemensschwestern in Münster eingetreten und erhielt den Namen Euthymia. Am 7. Oktober 2001 wurde Schwester Euthymia selig gesprochen. Heute ist das Anwesen Üffing eine der 6 Stationen auf dem Euthymia-Gedenkweg. Die kleine Landwirtschaft mit etwa 40 ha Boden betrieb ihr Neffe. Dieser war zudem einer der sogenannten „Milchbauern“ in Halverde. Mit seinem Milchfuhrwerk transportierte er, bis zur Einstellung des Milchtransports mit Pferdegespannen, die Milch der Bauern vom Langenacker zur Molkerei nach Hopsten. Guste Üffing, so wurde sie überall genannt, war Hausnäherin im wahrsten Sinne des Wortes. Die Termine mit ihr besprach man in der Regel nach dem gemeinsamen Kirchgang am Sonntag. Am vereinbarten Tag sattelte sie ihr Fahrrad und machte sich auf den Weg zu den Bauern. Zwischen dem ersten und zweiten Frühstück der Bauern traf sie in der Regel ein. Mit dabei hatte sie ihre Nähutensilien und ihre eigenen Schnittmuster. Gut gestärkt mit der ersten Tasse „guten“ Kaffees, ging es an die Arbeit. Diese bestand hauptsächlich aus Näh- und Flickarbeiten. Hier war eine neue Schürze zu nähen, dort eine Arbeitshose aus Bramscher Manchester zu flicken. Wenn zum Abend hin die Dämmerung einsetzte, machte sich Guste Üffing mit ihrem Fahrrad auf den Heimweg. Die freie Verpflegung über den ganzen Tag war die wesentliche Vergütung für ihre Arbeit. Hinzu kamen einige Mark als Entgelt.
Johanna Stegemann, Lange Straße
Die Fertigkeiten als Schneiderin hatte sich die ledige Johanna Stegemann (1895 – 1971) selbst angeeignet. Sie wohnte im Elternhaus. Wegen leichter gesundheitlicher Beeinträchtigung war sie nicht so beweglich. Sie ging ausschließlich zu Fuß zu den Familien und erledigte dort die gewünschten Arbeiten. In den Wintermonaten, wenn es des abends früh dunkel wurde, blieb sie auf den entfernter gelegenen Höfen und schlief dort in der Nacht.
Theresia Ameling, Osterbauer
Die gelernte ledige Schneiderin Thea Ameling (1916 – 1979) nähte ausschließlich zu Hause auf dem elterlichen Bauernhof, den ihr Bruder betrieb. Dort hatte sie ihr eigenes Nähzimmer. Ihre gute Arbeit sprach sich herum, weswegen sie besonders für das Nähen von Sonntags- oder Festtagskleidung gewählt wurde. Stand im Dorf eine Hochzeit an oder die Kirmes, das Schützen- oder das Feuerwehrfest, gab es für sie immer viel zu tun. Die Kunden mussten zu ihr kommen, denn sie machte keine Hausbesuche. Zu den Familien selber fuhr sie nur in besonderen Fällen hinaus. Das konnte aus Anlass von Hochzeiten sein, wenn sie der Braut beim Anziehen des Hochzeitkleides behilflich sein sollte. So war sie denn gleich zur Stelle, wenn Nadel und Faden noch kurz vor der Trauung gebraucht wurden. Nicht selten wurde sie zudem gebeten, einige Tage vor der Hochzeit beim Einsortieren der Schrankwäsche behilflich zu sein. Man sagte ihr nach, mit einer relativ spärlichen Ausstattungswäsche der Braut große Schrankfächer geschickt vollflächig füllen zu können. So wurden eventuelle Defizite bezüglich der Ausstattung geschickt kaschiert. Die nach dem Hochzeitskaffee kritisch prüfende Verwandtschaft war dann voll des Lobes ob der vermeintlich üppig gefüllten Kommoden und Wäscheschränke.
Maria Ahrens, Dorf
Maria Ahrens (1914 – 1994) war ledig und wohnte zunächst in einer sogenannten Zwei-Raum-Holzbaracke, direkt neben dem Bauernhof von Hermann Büscher, am Bogenweg/Ecke Voltlager Damm. Die Unterbringung war recht spärlich, standen ihr doch lediglich zwei Zimmer für Wohnen und Arbeiten zur Verfügung. Geheizt wurde diese karge Wohnung mit einem Holz-/Kohleofen. Sie fuhr nicht zu den Halverder Bewohnern. Sie nähte ausschließlich in dieser Wohnung. Auch sie hatte den Beruf der Schneiderin erlernt. Später, als die Holzbaracke wegen eines Neubaues eines Einfamilienhauses abgebrochen wurde, zog sie in eine Wohnung im gegenüberliegenden Anwesen der Familie Stermann.
Halverde hat keine „Naischke“ mehr
Mit dem Aufkommen von Versandhäusern ebbten die Aufträge für die vier Näherinnen ab. Die Halverder deckten nun ihren Bedarf rund um die Bekleidung aller Art mit Bestellungen aus den aufkommenden Versandhauskatalogen. Der wirtschaftliche Aufschwung ermöglichte es, sich neue Kleidungsstücke „von der Stange“ zu kaufen. Die Textilgeschäfte in den Nachbarorten boten ebenfalls mehr und mehr Kleidung an. Die Zeit der Näherinnen war vorbei. Weil auch alle vier Näherinnen schon recht betagt waren, stellten sie das Nähen ein. So gab es spätestens ab Mitte der 1970er Jahre keine Näherin mehr in Halverde.
Autor: Josef Brinker
Fotos: Familie H. Stegemann, Familie Heitkönig, Familie Ahrens, Familie R. Ameling, und Josef Brinker
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